Geschichte der Neupfarrkirche

 Geschichte der Regensburger Neupfarrkirche

 von Harald Berghoff

Der Name ist Programm: eine „Neue Pfarre“ in einer seit der Antike bestehenden Siedlung – das bedeutet, dass etwas Altes verschwunden sein muss. So wird die Frage aufgeworfen: was war hier zuvor? Die Antwort: Hier befand sich das Geschäfts- und Wohnviertel der jüdischen Gemeinde zu Regensburg mit seiner Synagoge. Eine lange Epoche des Wohlstands der Stadt Regensburg, gegründet auf den Fernhandel des Früh- und Hochmittelalters, schuf eine Atmosphäre ausgesprochener Toleranz. Unter diesen günstigen Umständen entwickelte sich an der Synagoge eine Talmudschule von europäischem Rang. All dies wurde im Jahre 1519 zerstört.

Vorgeschichte hierfür war der fortschreitende wirtschaftliche Niedergang des Regensburger Fernhandels und damit der Verlust der Stellung als eine der wohlhabendsten und mächtigsten Städte nördlich der Alpen, die ihren politischen Zenit in der Reichsfreiheit 1245 erreichte. Aber gegen Ende des 15. Jahrhunderts war die wirtschaftliche Lage der Stadt schlecht, man lebte „auf Pump“. Zahlreiche Einwohner, von den Fernhändlern bis hin zu Krämern und Handwerkern, waren bei den Juden hoch verschuldet. So war die Stimmung gegenüber der jüdischen Bevölkerung alles andere als positiv. Auch kirchliche Würdenträger, allen voran der Domprediger Balthasar Hubmaier, fachten in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts in öffentlichen Hetzreden die antisemitische Stimmung an. Als im Januar 1519 Kaiser Maximilian I. unerwartet starb und im Geschacher um seine Nachfolge ein Machtvakuum entstand, fehlte ein Kaiser als persönlicher Schutzherr über die Juden. Die Gelegenheit war günstig: der Rat der Stadt nutzte die öffentliche Stimmung und die Proteste zum Erlass einer Verordnung, die die "Ausschaffung der Juden aus der Stadt" beinhaltete. Sehr scharf fällt die Forderung des Magistrats aus, dass die Synagoge binnen zwei Stunden und das jüdische Viertel binnen acht Tagen komplett zu räumen und auch abzubrechen sei. Aufschub erhält der Abbruch der Synagoge nur durch das Verlangen des Stadtrates und Künstlers Albrecht Altdorfer, zuvor noch Skizzen dieses Sakralbaus anzufertigen (Abbildung 1).

Mit dem Abbruch der Häuser endet nicht nur die Baugeschichte der jüdischen Gemeinde in Regensburg, sondern auch eine der höchsten geistig-geistlichen Traditionsschulen Mitteleuropas, die mit den wichtigsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters regen Austausch betrieb. Es greifen die Standardmechanismen der christlich-abendländischen Propaganda: Ecclesia siegt über Synagoga (Abbildung 2). So wurde auch in Regensburg der Standort der Synagoge sofort nach dem Abbruch mit einer christlichen Kapelle aus Holz überbaut, die – wie bei anderen europäischen Judenaustreibungen üblich – Maria als Mutter Gottes gewidmet wurde. Schnell wird von der Geistlichkeit und vom Rat die Erzählung um die Rettung eines beim Abbruch verunglückten Steinmetz aufgegriffen. Auf dieser Basis entsteht sehr schnell eine blühende Wallfahrt mit Tausenden Pilgern pro Tag, die auch entsprechende Geldmittel in die verarmte Stadt fließen lassen. Die Stadt will diese abschöpfen und fördert anstelle der Holzkapelle den Bau einer Wallfahrtskirche aus Stein. Auch der Bischof möchte davon profitieren und interveniert, aber in einem Vergleich mit der Stadt wird dieser das Patronatsrecht über die Kirche zugesprochen. Somit verfügt der Magistrat über die Ein- und Ausgaben sowie die Personalia der neuen Kirche.

Es entstehen ambitionierte Pläne eines gewaltigen Baus, die allerdings nur teilweise ausgeführt werden (Abbildung 3). Die Kirche Zur Schönen Maria bleibt eine Bauruine. So schnell die Wallfahrt aufflammt, so schnell flaut sie wieder ab. Denn wir befinden uns im Zeitalter des Humanismus, in dem sowohl die Wissenschaft als auch die breite Öffentlichkeit den Menschen als Individuum wahrnehmen und sein Verhältnis zu Gott neu zu definieren suchen. Hier sind Namen zu nennen wie Jan Hus, Erasmus von Rotterdam und – brandaktuell – 1517 Martin Luther mit seinem Thesenanschlag. Und Regensburg hat als traditionell sehr international orientierte Stadt immer noch den Finger am Puls der Zeit. Trotz lokaler Sympathien für den reformatorischen Gedanken hält sich die Reichsstadt im Schatten des katholischen Habsburger Kaiserhauses offiziell zurück. Erst nach dem Scheitern des Religionsgespräches von Johannes Eck und Philipp Melanchthon am Reichstag zu Regensburg von 1541 gibt der Rat der Stadt im Oktober 1542 dem Drängen der Mehrheit der Bürgerschaft nach und führt offiziell die Reformation ein. Somit baut sie sich in Regensburg aus den Handwerkerschichten über die Bürgerschaft auf breiter Basis von unten auf, während sie an vielen anderen Orten von den Landesherren von oben verordnet wird.

Diese neuen öffentlichen evangelischen Gottesdienste konnten nur in städtischen Gebäuden stattfinden, da die katholischen Würdenträger selbstverständlich ihre Gotteshäuser nicht zur Verfügung stellten. So rückte der unvollendete Bau der Wallfahrtskirche ins Blickfeld. Der Chor, aus Geldnot mit einer provisorischen Wand abgeschlossen, wird erst 1540 geweiht. Der erste protestantische Gottesdienst mit Abendmahlsfeier in beiderlei Gestalt wurde hier am 15. Oktober 1542 gefeiert. Eigens hierfür gab der Rat der Stadt einen Kelch und eine Hostienbüchse in Auftrag (Abbildung 4).

Zu diesem Zeitpunkt stehen die Außenmauern des Chores sowie die der Nord- und Südhalle einschließlich der beiden Flankentürme. Der zwischen ihnen befindliche Chorbogen ist mit einer dünnen Behelfswand verschlossen und der Raum mit einer flachen Holzdecke versehen. Der Südturm bekommt 1560 ein bis heute erhaltenes geschmiedetes Uhrwerk mit einer Glocke für den Stundenschlag. 1586 - 44 Jahre nach der Reformation - wird der Raum eingewölbt. Doppeladler und Stadtwappen in den Schlusssteinen der Gewölbe zeigen die Reichsstadt als Bauherrn an. 1593 wird der Nordturm um ein Geschoss erhöht und zwei Jahre später die große Glocke (Schlagton C'+ 1/16, Gewicht ca. 1,4 t, Ø 141 cm) von Georg Schelchshorn gegossen. Auch wenn die langsame Bauabfolge nicht dem großen Wurf von Hans Hieber von 1519 (Abbildung – Photo Originalmodell Hieber, von Ostendorfer bemalt) entspricht, so markiert sie doch kunsthistorisch für Regensburg den Übergang von der Gotik zur Renaissance.

Entlang der alten Handelsrouten gewinnt Regensburg in dieser Zeit den Ruf einer aufgeklärten evangelischen Stadt. Schlüsselfigur in dieser frühreformatorischen Epoche ist der Regensburger Superintendent Nicolaus Gallus, der mit seinem Katechismus die Grundlagen des evangelischen Lebens in der Reichsstadt legt. Die darin enthaltenen Illustrationen von Michael Ostendorfer finden ihre Entsprechung im Reformationsaltar von 1553/54, der das Verständnis von Theologen und Laien und Luthers Lehre vom Abendmahl in beiderlei Gestalt im Zusammenhang mit den biblischen Geschichten bildlich verankert (Abbildung 5).

Einige aufgeschlossene Adelsherren aus dem osteuropäischen Raum fühlen sich durch die neue Art zu predigen so angesprochen, dass sie in Regensburg nach geeigneten Pfarrern anfragen. Bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges erhalten zahlreiche Theologen ihre Ausbildung gemäß den Lehren Luthers in Regensburg. Sie begründen - nach einer in der Südhalle der Kirche bestandenen Prüfung - viele neue evangelische Gemeinden entlang der Donau und den angrenzenden Gebieten. Die Neupfarrkirche kann demnach als Mutterkirche des Protestantismus in Südosteuropa bezeichnet werden.

Etliche Nachfahren dieser Gemeindegründungen müssen sich während des Dreißigjährigen Krieges aus den katholisch dominierten Landschaften donauabwärts in die evangelische Reichsstadt retten. Manche der Exulanten waren in der Lage, ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. So ist die Taufschale der Neupfarrkirche (Abbildung 4) auf eine Stiftung der aus Österreich vertriebenen Familie Flußhardt zurückzuführen. Die Erblasserin Maria Catharina Dollingerin geb. Flußhardt verfügte schon 1645, dass „alle Kinder, arm und reiche, darinnen getaufft werden sollen“. Das gilt bis heute.

Das 18. Jahrhundert brachte eine zweite große Flüchtlingswelle insbesondere aus dem Erzbistum Salzburg. Während viele Familien weiter in die norddeutschen Landesteile und Ostpreußen wandern, etablieren sich einzelne Familien erfolgreich vor Ort und werden Mitglied des Inneren Rates der Stadt. Unter ihrem Einfluss werden im Hoch- und Spätbarock (1724 und 1774) Pläne für einen umfassenden Umbau der Neupfarrkirche entwickelt – wie schon zuvor scheitern diese an der Finanzierung.

Während sich das Gebäude nicht verändert, ist doch in der geistigen Welt Regensburgs ein großer Wandel zu spüren. Quer durch die Bürgerschaft und alle Konfessionen sowie Institutionen verbreitet sich das Gedankengut der Aufklärung.  Für das evangelische Regensburg ist der Superintendent Jakob Christian Schäffer (1718-1790) das Musterbeispiel eines aufgeklärten Universalgelehrten. Europaweit ist er ein renommiertes, korrespondierendes Mitglied bedeutender Akademien der Wissenschaften. So reicht sein Einfluss von Zoologie und Biologie über Theologie bis hin zur innovativen Papierherstellung, für die er von der Royal Society London ausgezeichnet wurde.

Nach der Säkularisation 1803 und dem Ende des Alten Reiches 1806 fällt Regensburg 1810 endgültig zum Königreich Bayern. Dieser neue Staat muss erst seine eigene Ordnung finden. Dabei entsteht im Jahre 1814 die Bayerische Landeskirche. Aus den Superintendenten werden Dekane, die nun auch über die alten reichsstädtischen Grenzen hinaus wirken. In der Stadt Regensburg vollzieht sich ebenfalls ein organisatorischer Wandel, sie wird mit dem Umland in die beiden Sprengel Obere und Untere Stadt mit dem jeweiligen Zentrum Dreieinigkeits- und Neupfarrkirche aufgeteilt. 

Es dauert bis 1860, ehe auch am Bauwerk der Neupfarrkirche Neuerungen in Angriff genommen werden. Als äußerer Anlass kann die Purifizierung des in Sichtweite gelegenen Domes St. Peter von 1828-1841 sowie die 1859 begonnenen Arbeiten zum vollständigen Ausbau seiner beiden Westtürme unter König Ludwig I. von Bayern gelten. Im Kontrast zum Dom fällt den evangelischen Bürgern die fragmentarische Ausführung der Neupfarrkirche unangenehm auf. So wird mit der Vollendung des Baus der Architekt Ludwig Foltz beauftragt. Zunächst werden die beiden Türme auf ein symmetrisches Erscheinungsbild gebracht. Die einfache Wand, mit der der Chorbogen seit dem 16. Jahrhundert provisorisch verschlossen war, wird durch einen Westchor ersetzt, der architektonisch dem historischen Ostchor entspricht. Foltz greift weder die alten Pläne Hiebers mit einem monumentalen Zentralbau noch die barocken Ideen mit einer seitlichen Erweiterung auf. Er entscheidet sich damit bewusst dafür, auf das bestehende Raumgefüge des Platzes Rücksicht zu nehmen.

Gegen Ende der 1880er Jahre erfolgen Nachbesserungen – die Fenster werden motivisch gestaltet, das Geläut überarbeitet und ergänzt sowie die Orgel überholt. Diese Veränderungen sind allerdings recht kurzlebig, nichts davon ist am ursprünglichen Ort erhalten. So wurden z.B. die Orgel und die sie umgebenden Emporen 1908, 1928, 1966, 1979/1981 bzw. 1986 verändert und ausgetauscht. Auch hat das Geläut im 1. und 2. Weltkrieg erheblich gelitten, von Einschmelzungen kam lediglich die C' von 1595 zurück. 1947/48 wurden drei neue Glocken (Es'-F'-As') für den Südturm gegossen, in den 1960er Jahren die alten Fenster ausgebaut.

1927/28 wurde u.a. eine neue Heizungsanlage unter dem Kirchenboden eingebaut. Bei den damit einhergehenden Grabungen kamen Gewölbe zum Vorschein, die aufgrund der allgemeinen Lehrmeinung, dass die Kirche über der abgebrochenen mittelalterlichen Synagoge errichtet wurde, als Überreste derselben gedeutet wurden. Die geplante Neugestaltung des Neupfarrplatzes 1995 brachte bei den Sondierungen wenige Zentimeter unterhalb des Straßenniveaus großflächige Zeugnisse des jüdischen Viertels zutage. Die anschließenden archäologischen Grabungen führten u.a. zur Entdeckung des tatsächlichen Synagogenstandortes einige Meter westlich der Neupfarrkirche. Aus heutiger Sicht lässt sich dies einfach erklären, da die ursprüngliche Holzkapelle über dem jüdischen Gotteshaus errichtet war und bis 1540 genutzt wurde, während daneben 1519 der neue steinerne Bau begonnen wurde. Dadurch, dass das Hauptschiff nie ausgeführt wurde, blieb das Areal unbebaut.

Die Frage, die sich nun stellte: Wie kann heute eine Erinnerung an den ehemaligen Standort der bedeutenden Synagoge aussehen? Dem israelischen Künstler Dani Karavan gelingt eine beeindruckende bauliche Geste: Er zeichnet mit blendend weißem Beton die Umrisse der darunterliegenden Synagoge als Bodenrelief nach. Bewusst haben sich der Künstler und die heutige jüdische Gemeinde von Regensburg dafür entschieden, das Areal als Ort der Begegnung und des Austausches für alle offen zu halten. Unmittelbar daneben präsentiert sich die Neupfarrkirche als einziger Sakralbau der Innenstadt freistehend auf einem Platz. Zusammen mit den hervorspitzenden Domtürmen wird das Spannungsfeld zwischen dem evangelischen, jüdischen und katholischen Leben in Regensburg auf einen Blick wahrnehmbar.

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